Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sitzen bequem im plüschigen, klimatisierten Bauch eines portugiesischen Hochgeschwindigkeitszuges und fahren durch Landschaften, die so atemberaubend schön sind, dass ein Renaissance-Maler vor Verzweiflung seine Staffelei wegwerfen und vor Freude weinen würde. Der Kaffee dampft selbstgefällig in der Tasse, die Gedanken sind die eigenen, und die Welt ist in Hochform. Es ist ein perfektes, friedliches Tableau.

Dann, wie ein Ziegelstein durch ein Buntglasfenster, beginnt "es".

Kein Flüstern, kein höfliches Husten, sondern die Surround-Sound-Wirkung eines häuslichen Dramas. Eine Großmutter mit Lungen wie ein Nebelhorn und einer Präsenz wie ein Diktator mitten in der Rallye überfällt den Wagen mit ihrem Telefonanruf. Ihr A2-Portugiesisch, das normalerweise für das Bestellen von Pastéis und das Entschuldigen reserviert ist, wird plötzlich scharfsinnig. Sie sind jetzt gegen Ihren Willen ein wichtiger Zeuge in der dringenden nationalen Krise der Magen-Darm-Beschwerden des kleinen João. Sind es Blähungen? Ist es Meuterei? Wird Kamillentee den Tag retten, oder rufen wir die pharmazeutische Kavallerie herbei? Der ganze Wagen ist eine Geisel dieser Krise, gefesselt an eine melodramatische Sendung, live auf Radio e Televisão pública. Es gibt keine Stummschalttaste, keinen Rückwärtsgang, nur dich, der du voller Dankbarkeit zu dem großen Mann hochschaust.


Irgendwie flüchtest du in den Bus, suchst Asyl in seiner weniger glamourösen, mehr nach Diesel riechenden Enge. Sicherlich wirst du hier, inmitten des Zischens der hydraulischen Türen, Stille finden.

Auftritt Snr. Renato, der Videotelefonate führt, wie ein Affe mit einer Granate umgeht, ohne zu wissen, wie man sie richtig einsetzt... unser Mann ruft seine Frau an.

Seine Aufgabe?

Die ewigen Geheimnisse des Abendessens und die genauen Koordinaten der kalten Biere in seinem Kühlschrank zu lösen.

Das sollte ein Fünf-Sekunden-Austausch sein:

"Was gibt's zu essen?"

"Bacalhau."

"Bier?"

"Im Kühlschrank, du Faulpelz******."

Nicht für Snr. Renato, ein Mann, der offensichtlich den Klang seiner eigenen Gedanken genießt, behandelt diesen Austausch wie eine parlamentarische Verschleppungstaktik. Sie wissen jetzt mehr über die Zoneneinteilung seines Kühlschranks als über Ihre eigene Blutgruppe. Die Antworten seiner Frau werden kürzer und schärfer, jede einzelne ist wie eine kleine Guillotine. In der zehnten Minute sind Sie im Geiste schon dabei, die Scheidungspapiere zu verfassen.

Oh, aber du bist doch ein moderner Mensch, zwitschert der eingebildete, unerträglich selbstgefällige Kritiker in dir. Du hast doch diese schicken Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung. Warum setzt du sie nicht einfach auf und schaltest ab?

Liebe süße Schwester der Lärmbelästigung, glaubst du, mein überteuerter, von Tech-Bro's genehmigter Ohrenschutz kann der rohen, ungefilterten Kraft einer portugiesischen Großmutter standhalten, die Joãos Faseraufnahme analysiert? Diese Kopfhörer, die schwören, dass sie eine Boeing 747 zum Schweigen bringen können, fangen an, unter der schieren Klangmacht einer Tuga-Matriarchin in vollem Schrei zu versagen. Der Algorithmus zur Geräuschunterdrückung bekommt einen Wutanfall wie ein öffentlicher Bediensteter und zeigt eine Fehlermeldung an:

"Wie können Sie es wagen, von uns zu erwarten, unter diesen Bedingungen zu arbeiten? Wir sind selbstbewusste, hochentwickelte 80-€-Schalldämpfer, die in einer sicheren Umgebung arbeiten sollen; wir sind keine Ohrenkneifer. Diese gefährlichen Bedingungen übersteigen unsere Möglichkeiten; Sie sollten wegen Verbrechen gegen die Technik angeklagt werden... wir gehen".


Das alles wirft eine ziemlich spießige Frage auf: Ist dies eine einzigartige portugiesische Form der akustischen Gastfreundschaft, oder bin ich nur ein verwöhnter Trottel, der sich nach einer schalldichten Blase sehnt? Ist die ganze Welt jetzt eine offene Bühne für jedermanns langweilige persönliche Dramen, oder bin ich mit einem Sitz in der ersten Reihe für das ungeschriebene/ungefilterte Theater des Alltäglichen verflucht worden?

Vielleicht ist es keine Lärmbelästigung. Vielleicht ist es ein Geschenk. Wo sonst kann man eine so reichhaltige, tiefgründige und völlig kostenlose Studie der modernen Gesellschaft erhalten? Für den Preis einer Busfahrkarte erhält man eine Meisterklasse in portugiesischer Familiendynamik, kulinarischer Planung und pädiatrischer Gastroenterologie.

Nächstes Mal lasse ich die Kopfhörer vielleicht ganz weg. Nimm einen Notizblock. Lehn dich rein. Die Geschichte des kleinen João wird sich nicht selbst belauschen, ebenso wenig wie Snr. Renatos Biersuche. In dieser lauten, chaotischen Welt ist es vielleicht ein echtes Privileg, gezwungen zu sein, zuzuhören.